Ein weiterer Artikel über meine Arbeit in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung
Misophonie – Geräuschehass, wenn Geräusche Wut und Schmerz auslösen
„Die Gehrdener Heilpraktikerin Bianca Gutzeit ist Expertin für Misophonie – davon gibt es bundesweit nur sechs“
Von Sarah Istrefaj
In der HAZ Gehrden am 17. Juli 2024
„Gehrden. Schlucken, Schmatzen, Atmen, Räuspern, Kratzen – menschliche Geräusche sind für uns alltäglich, und doch gibt es Menschen, die genau darunter leiden. Bei ihnen sind die Geräusche anderer ein Trigger, der Wut und sogar körperlichen Schmerz auslösen kann.
Misophonie heißt das Beschwerdebild, das bislang noch keine anerkannte psychische Erkrankung darstellt, aber doch weit verbreitet ist.
Bianca Gutzeit aus Gehrden ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und mit dem Schwerpunkt Hypnose – und eine von bundesweit sechs qualifizierten Expertinnen und Experten, die sich auf das Thema Misophonie spezialisiert haben.
Kaugeräusche können triggern „Es ist ein neurologisches Fehlverhalten, das eine körperliche Reaktion erzeugt und meist in Wut mündet. Betroffene hören ein Geräusch, das sie so stark triggert,
dass es sich wie ein Schlag im Inneren auswirkt“, erklärt Gutzeit. Die Wut richte sich oftmals gegen einen eigentlich geliebten Menschen – zum Beispiel den Partner, dessen Kaugeräusche beim gemeinsamen Essen einen Streit hervorrufen. Oder das vermeintliche „Stampfen“ der Nachbarn bringe einen Hausbewohner zur Weißglut.
Ein Patient von ihr habe sich aufgrund seiner bisherigen Triggergeräusche ein großes Haus fernab von Nachbarn und Wohnbebauung gekauft, erzählt die Gehrdener Heilpraktikerin. Doch auch dort habe er ein Geräusch identifiziert, das ihn um den Schlaf gebracht habe: In einer Tischlerei weit entfernt habe nachts ein Gerät brummende Geräusche erzeugt. „Die Nachbarn sind hier gar nicht das Problem“, betont Bianca Gutzelt. Der Leidensdruck der Betroffenen sei aber sehr groß und könne sogar körperliche Schmerzen auslösen. Die Forschung zu dem Thema befindet sich noch in den Anfängen, aber Statistiken
gehen davon aus, dass bis zu 15 Prozent der Menschen unter Misophonie leiden. Die Erfahrung kann auch Gutzelt bestätigen. Etwa fünf Menschen pro Monat aus Gehren, aber auch von weiter her, suchen sie zu diesem Thema in ihrer Praxis in der Hornstraße in der Gehrdener Kernstadt auf – und das bereits seit zwei Jahren.
Die Therapie der Heilpraktikerin setzt da an, wo das Problem entsteht, in der Psyche. „Ich war früher der Meinung, man kann alles mit Hypnose lösen, aber an der Misophonie hab ich mir damit zunächst die Zähne ausgebissen“, erzählt Bianca Gutzelt. Heute ist sie eine von deutschlandweit sechs Expertinnen und Experten für Misophonie – und hat ihre Sichtweise geändert. „Hypnose allein ist
hier nicht ausreichend. Es benötigt mitunter Elemente unterschiedlicher Therampien, um die Körperwahrnehmung zu verändern“, sagt sie. Denn meist entstehe das Problem bereits in der frühen Kindheit.
Stress steigt durch Trigger.
Ein Beispiel: Die Eltern streiten sich häufig und das Kind würde gern eingreifen, kann es aber nicht und fühlt sich schlecht. Während der Streitereien zieht der Vater ständig die Nase hoch. Später verbindet das Kind dieses Geräusch mit etwas Negativem, es wird zum Trigger. „Oftmals ist es erst nur ein Geräusch, später können aber auch optische Reize dazukommen“, so die Heilpraktikerin. Der Stresspegel in solchen Momenten halte bei Betroffenen 20 bis 30 Minuten an. In dieser Zeit seien sie handlungsunfähig. „Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Großraumbüro mit vielen Menschen. Da haben Sie keine Chance zu entkommen.
Die Betroffenen sind dann oft im Konflikt und Zwiespalt mit sich selbst.“
Bis eine Misophonie erkannt wird, kann es Jahre dauern.
Betroffene googleten ihrer Erfahrung nach im Internet und suchten größtenteils zuerst einen Akustiker auf. Häufig werde Hyperakusis, affektive Störungen, Hypersensibilität oder ADHS
diagnostiziert. „Kinder bekommen Wutanfälle und Eltern schließen daraus, dass diese überreizt, zu müde oder nicht ausgelastet seien.“
Die gute Nachricht: Misophonie kann sich über die Jahre verlieren. Bianca Gutzeit arbeitet mit ihren Patienten daran, den Leidensdruck zu mindern und das Gehirn umzutrainieren. „Die Erfolgsaussichten sind sehr gut. Das Ziel ist, den Fokus nach innen zu richten. Dafür müssen die Leute aber aktiv mitmachen.“ So gebe es Entspannungstrainings mit nach Hause, die dort jeder für sich umsetzen müsse. In
Triggermomenten solle man aktiv dem Reiz zunächst aus dem Weg gehen und sich zurückziehen, beispielsweise allein essen oder Kopfhörer tragen.
Das Gehirn lernt, ruhig zu bleiben
„Man kann nicht versprechen, dass man das nach fünf Therapiesitzungen los ist“, sagt Gutzeit. „Aber durchschnittlich brauche es vier bis fünf Sitzungen, bis das Gehirn lerne, in Triggermomenten ruhig zu bleiben.“ Nach einigen Sitzungen provoziere ich auch mal und kaue laut Kaugummi oder schlürfe Kaffee, um zu sehen: Wo stehen wir gerade?“, verrät sie.
Vermeintlich Betroffene können im Internet einen Selbsttest über die sogenannte Amsterdam Misophonieskala auf misophonie.de machen. Diese misst den Leidensdruck, unter anderem, welche Trigger es gibt, ob das Problem ganztags besteht oder ob es reproduziert werden kann.“